Neitzels Aussagen zum „letzten Friedenssommer“ fördern Kriegspanik

Sönke Neitzels Aussagen zu einem bevorstehenden Krieg mit Russland (womöglich jetzt „letzter Friedenssommer“) sind völlig überzogen und unverantwortlich, denn sie verunsichern die Bevölkerung und schüren Kriegspanik. Sie entbehren einer nüchternen Analyse der militärischen Fähigkeiten und politischen Absichten Moskaus.

Russland fehlen die militärischen Fähigkeiten für einen Angriff auf Europa

Für einen kurzfristig oder 2029 bevorstehenden Angriff auf Europa fehlen Russland die militärischen Fähigkeiten. Zwar ist die russische Wirtschaft zur Kriegsproduktion übergegangen, doch ist der hohe Ausstoß an schweren Waffen vor allem auf die Instandsetzung älterer Lagerbestände zurückzuführen. Sie sollen die hohen materiellen Verluste im Krieg gegen die Ukraine ersetzen. Nun neigen sie sich dem Ende entgegen.

Die russische Armee hat drei Viertel ihrer Landstreitkräfte im Ukrainekrieg gebunden und selbst aus der baltisch-finnischen Region Kräfte abgezogen. Sie hat es in drei Jahren Krieg nicht geschafft, die Ukrainer entscheidend und nachhaltig zu besiegen oder auch nur die ukrainische Luftverteidigung niederzuringen, um die uneingeschränkte Luftherrschaft zu erzwingen. Im Schwarzen Meer musste sich die russische Flotte sogar in das östliche Küstengebiet zurückziehen.

Zwar ist Kiew vor allem wegen des akuten Personalmangels in eine schwierige Lage geraten; und in Kursk und im Donbas neigt sich die Waagschale jetzt zugunsten der Russen; aber ihre begrenzten Landgewinne haben sie mit hohen Verlusten erkauft und noch immer haben sie nicht einmal das Minimalziel erreicht, nämlich die Kontrolle über die Verwaltungsgrenzen des Gebietes Donezk.

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Die europäische Nato wäre Russland konventionell überlegen, auch ohne USA und Türkei

Auch wenn es noch im ersten Halbjahr 2025 zu einem Waffenstillstand kommen sollte, was keineswegs sicher ist, werden die russischen Streitkräfte noch über lange Zeit in der Ukraine gebunden bleiben. Denn sie müssen dem Risiko begegnen, dass die Ukrainer in einer günstigeren Lage die Kampfhandlungen wieder aufnehmen.

Mit welchen Kräften sollen denn nun die Russen sich auch noch gegen das stärkste Militärbündnis der Welt wenden? Selbst die europäische Nato ohne die USA und die Türkei wäre den russischen Streitkräften in allen klassischen konventionellen Kategorien wie Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie, Kampfflugzeuge überlegen.

Mit einem Angriff auf Nato-Staaten würde Russland das Risiko eines großangelegten militärischen Konflikts mit 32 Staaten heraufbeschwören, darunter mit drei Atommächten.

Solche Risiken eignen sich nicht für ein „Testen“ (Carlo Masala). Gleichwohl verkennt meine Bewertung keineswegs, dass Europa und vor allem die Bundeswehr Ausrüstungsmängel und Fähigkeitslücken schließen müssen, um die Abschreckung auch langfristig zu erhalten.

Sicherheitsbedenken der russischen Eliten

Auch eine entsprechende politische Absicht Moskaus, europäische NATO-Länder anzugreifen, ist nicht nachweisbar. Im Gegenteil, die russische Führung hat diese Diskussion in Europa als Unsinn bezeichnet.

Dass möglicherweise dieses Ziel bestehen könnte, ist eine Interpretation, die von einigen Think-Tanks auch in Deutschland gepflegt und mit selektiven Zitaten aus russischen Meinungsbeiträgen unterfüttert wird.

Solche Theoriegebäude sind jedoch ungeeignet, um eine strategische Analyse zu ersetzen und einen bevorstehenden russischen Angriffskrieg gegen NATO-Europa zu prognostizieren.

Es geht vielmehr im Kern um das, was wir in über 30 Jahren Diplomatie mit Russland erfahren haben, was die strategischen Eliten dort umtreibt, mit oder ohne Putin, nämlich um russische Sicherheitsbedenken.

Deren Risikoperzeptionen mag man teilen oder nicht; aber sie sind real und der Stoff für Diplomatie und im besten Fall für gegenseitige Rüstungskontrolle.

Die Konsequenz daraus ist es jedoch, einen neuen Dialog über die zukünftige europäische Sicherheitsordnung zu suchen, statt ihn zu verweigern, ihn als „Appeasement“ oder gar „Verrat“ zu brandmarken und Kriegspanik zu schüren. Ein diplomatischer Ansatz könnte die Bemühungen um einen Waffenstillstand stärken.

Die Kriegshysterie entspringt dem Selbstzweifel

Tatsächlich ist der Kern der zunehmenden Kriegshysterie der Selbstzweifel in manchen Nato-Staaten, ob wir Europäer und die USA noch zu unseren Beistandsverpflichtungen nach Artikel 5 des Nato-Vertrags stehen.

Dieser Zweifel ist nicht neu. Um ihm zu begegnen und die Abschreckung zu stärken, hat die Nato bereits seit 2014 die Luftverteidigung über den baltischen Staaten und Polen verstärkt und dort multinationale Kampfgruppen stationiert.

Deutschland hat dabei eine besondere Verantwortung für Litauen übernommen und zugesagt, die schon präsente Kampfgruppe unter deutscher Führung zu einer dauerhaft stationierten Kampfbrigade zu erweitern.

Dies bedeutet, dass ein russischer Angriff sofort auf Verbände von über 20 Nato-Staaten einschließlich der Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich stoßen würde. Daran hat sich bisher auch unter der Trump-Regierung nichts geändert.

Die Kommando- und Streitkräftestrukturen der Nato arbeiten unverändert wie vorher, einschließlich der wichtigen amerikanischen Führungs- und Fähigkeitsbeiträge.

Russland ist für Trump nur noch ein Störfaktor

Richtig ist zweifellos, dass Trump sich auf den Hauptrivalen China konzentrieren will und dazu eine andere militärische und finanzielle Lastenverteilung zugunsten der USA sucht. Dass die Europäer mehr Lasten schultern sollen, ist nicht neu und seit Obamas „pivot to Asia“ bekannt. Dies wird in den USA parteiübergreifend geteilt. Wir sollten also nicht überrascht sein.

Neu ist allerdings, dass Trump Russland nicht mehr als Hauptrivalen sieht, sondern nur noch als Störfaktor. Er bewertet den Krieg in der Ukraine als unnütze Vergeudung von Ressourcen, die er in eine andere Richtung lenken will.

Dazu möchte er den Krieg rasch und gesichtswahrend beenden und einen diplomatischen Ausgleich mit Russland suchen. Vielleicht hofft er auch, dadurch Russland von China entfremden zu können.

Zudem geht es für die USA darum, die strategische nukleare Stabilität zu wahren. Der New Start-Vertrag läuft im Februar 2026 aus. Ein Ersatz dafür ist noch nicht in Sicht. Aber Trump will offenbar einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf verhindern. Dazu hat er mit Russland vereinbart, die strategischen Stabilitätsgespräche nun formell wiederaufzunehmen. Dies war auch bisher bilateralen Verhandlungen vorbehalten.

Ohne Russland ist eine europäische Friedensordnung nicht möglich

Für Europa könnte sich als Folge der Neuausrichtung der US-Politik ein Fenster der Gelegenheit öffnen. Es muss darum gehen, eine dauerhafte und stabile europäische Friedensordnung wiederherzustellen, die mehr ist als eine instabile Dauerkonfrontation. Sie ist ohne Russland nicht zu erreichen.

Statt sich in die „Festung Europa“ einzuigeln, wären also diplomatische Initiativen geboten, um im europäischen Sicherheitsinteresse an einer kooperativen Ordnung zu arbeiten.

Eine solche Ordnung ist nach dem Ende des Kalten Krieges schon einmal erfolgreich umgesetzt worden. Sönke Neitzel sollte diese Zusammenhänge analysieren, statt Kriegspanik zu schüren.

Über den Gastautor

Wolfgang Richter ist ein deutscher Oberst a.D. und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, konkret in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Inzwischen arbeitet er als Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP).